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Erziehungsberatung e.V.

Erziehen ohne Schimpfen – wie geht das?

Eltern schimpfen mit ihrem Kind

Nicola Schmidt ist Wissenschaftsjournalistin, Autorin und ist Gründerin und Geschäftsführerin der Artgerecht GmbH. Sie findet, „Es ist okay, nett zu Kindern zu sein!“, und ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Erziehen ohne Schimpfen“.

Diplom Sozialpädagoge Ulric Ritzer Sachs, ein Kollege aus der bke-Onlineberatung hat sie zum Interview getroffen, um nachzufragen, wie und ob das tatsächlich funktioniert:

Ulric Ritzer-Sachs: Sie schreiben in ihrem Buch, das Erziehen tatsächlich funktioniert, ohne dass geschimpft werden muss. Ist es denn nicht normal, dass Eltern schimpfen, und wollen sie dadurch nicht etwas Gutes erreichen?

Wenn wir wollen, dass unsere Kinder zu kooperativen Erwachsenen heranwachsen, dann ist Schimpfen zumindest ein sehr ineffektiver Weg, es zu tun.

Nicola Schmidt: Das, was normal ist, ist das, was alle tun. Im 18. Jahrhundert zum Beispiel, war es normal, dass man sich nicht wäscht, sondern pudert. Deshalb glaube ich, dass die Frage, was normal ist, einfach die falsche Frage ist. Deshalb ist für mich die Frage vielmehr: Was ist effektiv, was wollen wir erreichen und wie erreichen wir das? Und da muss man ganz klar sagen: Wenn wir wollen, dass unsere Kinder zu kooperativen Erwachsenen heranwachsen, dann ist Schimpfen zumindest ein sehr ineffektiver Weg, es zu tun.

R.-S: Das heißt also, ein Kind lernt gar nichts, wenn es geschimpft wird?

Schimpfen ist, wenn ich das Kind unter Druck setze. Wenn ich es anschreie, demütige oder bedrohe.

S.: Nein, es kriegt einen Schreck. Es setzt es natürlich unter Druck und es kriegt mit, dass wir etwas nicht gut finden. Aber die Bereiche des Gehirns, die für das Lernen zuständig sind, werden tatsächlich unter Stress abgeschaltet. Das heißt, wenn wir Schimpfen, dann machen wir uns die Arbeit doppelt. Und jetzt müssen wir einmal darauf schauen, was Schimpfen überhaupt ist. Schimpfen ist nicht: „Hey, Stopp! Ich will nicht, dass Du mit dem Essen wirfst!“, und es ist es auch nicht, zu sagen: „Du darfst mich nicht hauen!“ Oder: „Frag bitte Deine Schwester, bevor Du ihr irgendwas wegnimmst.“ Sondern Schimpfen ist, wenn ich das Kind unter Druck setze. Wenn ich es anschreie, demütige oder bedrohe und Sätze sage wie: „Wenn Du nicht, … dann …!“. Das ist geschimpft und die Kinder sind unter Stress und lernen nichts.

R.-S: Das bedeutet, unser Gehirn kann das gar nicht verarbeiten und es ist gar nicht möglich, daraus zu lernen, außer: Es ist eine blöde Situation, da muss ich irgendwie raus.

Fight, Flight, or Freeze – Wegrennen, Kämpfen oder Einfrieren –  als Reaktion

S.: Genau, das Kind bekommt eine Stressreaktion: Fight, Flight, or Freeze – Wegrennen, Kämpfen oder Einfrieren –  als Reaktion im Gehirn. Wir kennen das von uns selbst. Wenn wir gestresst sind, finden wir nicht mal mehr den Autoschlüssel. Wie kann man in so einer Situation lernen?

R.-S: Eltern fühlen sich in manchen Situationen im Recht, wenn sie schimpfen. Nehmen wir einmal an, das Kind hat jetzt wirklich was total Gemeines und Böses gemacht und ich muss jetzt schimpfen damit es irgendwie eine Form von Wiedergutmachung oder Gerechtigkeit gibt. Es gibt aus Elternsicht einen guten Grund zu schimpfen, sonst wiederholt das Kind seine Taten und das Schimpfen verhindert das.

Uns geht es am Ende besser, weil wir unseren Stress losgeworden sind. Nur dummerweise hat jetzt das Kind den Stress.

S.: Hier vermischen wir mehrere Ebenen. Das Gefühl von: „Ich habe doch einen guten Grund, also ist es mein gutes Recht zu schimpfen!“. Das kommt eigentlich daher, dass das Kind etwas tut, das uns unter Stress setzt und wir diesen Stress loswerden wollen. Und wo geben wir unseren Stress hin? An das schwächste Glied der Kette, das Kind. Schnell kommen Vorwürfe wie: „Verdammt! Musstest du…“ oder „Deinetwegen bin ich jetzt…“, und wir geben unseren Stress an das Kind weiter. Das Schimpfen verschafft uns dieses Gefühl von Genugtuung. Uns geht es am Ende besser, weil wir unseren Stress losgeworden sind. Nur dummerweise hat jetzt das Kind den Stress.

Das Nächste ist eine Frage des Menschenbildes: „Das Kind hat jetzt wirklich was Böses gemacht, es wollte mich wirklich ärgern! Das Kind ist doch wirklich frech, das provoziert mich doch!“ Das ist eine Frage des Menschenbildes. Oft wissen wir gar nicht, was die Gehirne der Kinder leisten können, und sehen einfach nur ihr Verhalten und interpretieren es kulturell so, als wäre das Kind frech, trotzig und aufmüpfig. Aber wenn man gehirngerecht draufschaut, kann man sagen: „Nein! Es ist weder frech noch trotzig, noch aufmüpfig. Es ist einfach dreieinhalb.“

R.-S: Mit dreieinhalb finde ich das sehr nachvollziehbar. Wenn ich aber ältere Kinder habe und z.B. die Situation entsteht, dass ich ein dringendes Meeting im Homeoffice habe, das Mittagessen ist noch nicht ganz beendet. Ich muss aber schon los und bitte die Kinder, den Tisch abzuräumen, alles in den Geschirrspüler zu stellen und den Tisch abzuwischen. Zwei Stunden später steht das schmutzige Geschirr noch immer auf dem Tisch und die Kinder zocken. Hab ich da denn jetzt keinen guten Grund, ein Donnerwetter loszulassen?

Das, was wir eigentlich wollen ist, dass die Kinder aus Empathie kooperieren.

S.: Klar haben Sie einen guten Grund, schließlich sind Sie gestresst und frustriert. Aber was bringt es? Vielleicht geht es so weit, dass die Kinder aus Angst vor dem Donnerwetter kooperieren. Aber das, was wir eigentlich wollen ist, dass die Kinder aus Empathie kooperieren. Dass die Kinder lernen, weshalb es wichtig ist, dass wir hier zusammenhalten. Es wäre also viel klüger, mich hinzusetzen und zu sagen: „Leute, ich bin total frustriert. Ich habe so einen schweren Tag und ich brauche wirklich eure Hilfe. Wir müssen das anders machen.“ Und es ist ein Unterschied, ob ich das zu einem Sechsjährigen sage, zu einem 12-Jährigen oder zu einem 16-Jährigen.

R.-S: Heißt das, dass ich meinen Frust schon loswerden darf? Sagen, dass ich enttäuscht bin und es mich jetzt gerade total nervt? Aber auch, dass wir das gemeinsam irgendwie hinkriegen müssen. Wäre das die Haltung?

Die Haltung ist, dass ich natürlich authentisch sein darf

S.: Genau. Die Haltung ist, dass ich natürlich authentisch sein darf und sagen darf,  was mir gefällt und was nicht. Dabei muss ich aber lösungsorientiert bleiben, weil ich sonst einfach nur meinen Stress weitergebe. Und da werden die Kinder, je älter sie sind, einfach zunehmend in den Widerstand gehen. Teenager hören dann einfach nicht mehr zu. Die sagen: „Ja, ja!“ Und dann gehen sie Zocken, Spielen oder Skateboardfahren.

R.-S: Wie handhabe ich das denn, wenn es mir tatsächlich darum geht, Werte und Normen zu vermitteln. Zum Beispiel Tischmanieren. Solche Familienregeln, wie etwa „Nicht mit Essen werfen“, „Alle bleiben sitzen, bis die gemeinsame Mahlzeit beendet ist“ oder „Kein Rülpsen und Schmatzen“. Wie etabliere ich sowas ohne Schimpfen?

Vormachen, Abwarten, Üben- ist der Dreiklang, den wir dafür brauchen

S.: Vormachen, Abwarten, Üben- ist der Dreiklang, den wir dafür brauchen. Und das Wissen darüber, ab wann können die Kinder was leisten. Wir haben oft das Bild im Kopf, dass gute Eltern mit ihren Kindern am Tisch sitzen, alle erzählen vom Tag und haben die Idee, dass so Familienessen sein soll. Aber für Kinder unter zwei gilt: Sie dürfen den Tisch verlassen, wenn sie fertig sind. Sie können gar nicht länger sitzenbleiben. Für alle Kinder über zwei, sagen Forscher, sind mehr als zwanzig Minuten am Tisch unrealistisch. Wie kriege ich Kinder dazu, dass sie am Tisch sitzenbleiben? Es muss eine angenehme Situation sein, die Kinder müssen Hunger haben und ich darf vor allem die Kinder nicht ständig regulieren. „Sitz gerade! Ellenbogen vom Tisch! Hör auf zu Schmatzen!“ All das erzeugt keine schöne Situation und die Kinder entziehen sich. Natürlich bringe ich Tischmanieren bei, aber nicht in einem ständigen Genörgel. Besser wäre: „So Leute, seit vier Wochen wird hier am Tisch geschmatzt. Ich will jetzt einfach mal versuchen ob wir es ohne schaffen können. Heute essen wir mal wie im Restaurant. Das und das sind die Regeln. Kommt, wir  probieren das jetzt mal.“

R.-S.: Das hört sich gut an und ich finde es sehr entlastend, zu wissen, dass Kinder unter zwei das gar nicht können und auch wenn sie älter als zwei sind, eine zwanzig Minuten Grenze entlastend sein kann. Aber bedeutet das dann, dass mit kleinen Kindern ins Restaurant essen zu gehen eigentlich gar keine so eine gute Idee ist?

S.: Es sei denn, Sie haben einen Babysitter dabei, der es cool findet, mit dem Kind nach einer Viertelstunde in irgendeiner Ecke was zu spielen oder draußen Hunde anzugucken. Klar.

R.-S.: Und ein Restaurant, das aushalten kann, das kleine Kinder keine ruhigen Gäste sind. Dann verstehe ich das Schild, das ich in englischen Pubs oft gesehen habe – „No kids“ – vielleicht ein bisschen besser. Das ist dann möglicherweise die Unterstützung für die Eltern, dass sie das erst gar nicht machen.

S: Ja, und das ist ja auch kein Ort, an dem die Kinder etwas bekommen. Für die Kinder ist das todlangweilig: Erwachsene, die am Tisch sitzend über langweilige Dinge reden.

R.-S.: Der Klassiker in der Erziehungsberatung: Eltern sagen oft: „Ich muss morgens zur Arbeit und das Kind macht sich nicht selbst fertig oder es lässt sich noch nicht mal von mir anziehen und wir haben total Stress. Und das Schuhe anziehen dauert, immer wenn ich einen Termin habe, fünfmal so lange.“ Was kann ich hier tun? Würden Sie sagen, es wäre auch mal okay, ein Kind im Schlafanzug mit in den Kindergarten zu nehmen?

Wir machen es uns so einfach wie möglich

S: Absolut! Was ich noch viel cooler finde, ist das Kind abends schon anzuziehen. Also das Kind abends so anzuziehen, dass ich morgens nur noch Hose und Jacke über das Kind werfen muss und es dann mit der Decke ins Auto setzen kann, wenn ich früh los muss. Was ich versuche, zu sagen ist: Wir machen es uns so einfach wie möglich. Es ist total wichtig, dass wir uns die Dinge so simpel wie möglich machen und nicht gegen unsere Kinder arbeiten, sondern mit unseren Kindern. Damit unsere Kinder auch mit uns arbeiten können. Und morgens um acht Uhr oder sogar schon um sieben aus dem warmen Bett zu müssen, und angezogen zu werden, ist für ein Kleinkind schlicht nicht verständlich. Und je mehr Stress wir haben, je mehr Druck wir machen, desto mehr Stress hat das Kind. Und je mehr Stress es hat, desto weniger kooperiert es.

R.-S.: Okay, ich glaube, einige Eltern werden aufschreien: „Das kann ich doch nicht machen, dass ich mein Kind schon mit T-Shirt und Unterhose schlafen lasse! Das hat doch dann gar keinen Schlafanzug oder Nachthemd an, das geht doch nicht!“ Aber sie sagen: „Doch, klar geht das!“?

Wir müssen anfangen, kreativer zu werden

S: Sie können es ja auch mit Leggins und leichtem Pulli und ohne Decke schlafen lassen. Das ist ein klassischer Fall von: Wer Lösungen finden will, findet welche. Wer keine Lösung finden will, wird Wege finden, zu sagen: „Es geht nicht.“ Wir müssen anfangen, kreativer zu werden. Kinder brechen häufig aus unseren Routinen aus. Man muss am Tisch sitzen bleiben. Alle müssen um sieben frühstücken. Man muss mit Schlafanzug schlafen. Man muss jeden Tag duschen. Das sind alles Sachen, die Kinder in Frage stellen, und oft haben sie gar nicht so Unrecht.

R.-S.: Ja, wir brauchen nicht unbedingt einen Wechsel von allen Normen, aber schon eine ganz andere Herangehensweise, nämlich die Kinder tatsächlich auch ernst zu nehmen in ihrem Verhalten.

Es waren die Kinder und die Teenager, die neue Dinge herausgefunden haben. Nicht die Erwachsenen und die Alten.

S: Definitiv. Auch in den Fragen, die sie stellen. Kinder stellen soziale Fragen: „Muss das so sein? Geht das nicht auch anders?“ Ich finde es immer wichtig, mir bis ins Teenageralter vor Augen zu halten, dass das die Fragen waren, die die Menschheit in der Menschheitsgeschichte nach vorne gebracht hat. Es waren die Kinder und die Teenager, die neue Dinge herausgefunden haben. Nicht die Erwachsenen und die Alten.

R.-S.: Das ist ein interessanter Blickwinkel.
Ich habe noch ein “Worstcase“-Szenario vor Augen: Das Kind rennt in Richtung viel befahrener Straße. Autos kommen und meine Stopprufe werden ignoriert. Zum Glück bremst das Auto und nichts passiert. Und viele Eltern sind dann, glaube ich, auch aus Verzweiflung gar nicht in der Lage, locker, cool und entspannt zu reagieren, sondern schreien das Kind an. Was passiert da, wenn ich das mache oder wie könnte ich mich auf so eine Situation vorbereiten, damit ich gut reagieren kann?

Ich erinnere nur alle Erwachsenen daran, die nach einem langen, anstrengenden Tag in eine Tafel Schokolade beißen, obwohl sie genau wissen, dass sie lieber Salat essen sollten. Das ist auch eine Frage der Impulskontrolle.

S: Im Zweifelsfall, wenn ich einen Riesenschreck kriege, kann es natürlich sein, dass ich das Kind anschreie. Wie ich schon erklärt habe: Bekomme ich einen Schreck, erfolgt ein Adrenalinstoß. Durch die Adrenalin- und Cortisolausschüttung im Körper wird meine Empathie, mein Mitgefühl – das Kind ist zweieinhalb und hat einen Hund gesehen- abgeschaltet. Ich werde motorisch stark, also fasse ich das Kind fester an, als ich es sonst tun würde und so weiter. Was passiert da? Das Kind hat einen Impuls, und bis man Impulskontrolle lernt, muss man irgendwann zwischen sechs und zehn Jahren sein. Das heißt, unter sechs ist es ganz schwer für ein Kind, das einen Impuls hat, z.B. „ein Hund!“ oder „Oma!“ und über die Straße laufen will, diesem Impuls nicht zu folgen. Jetzt sagen wir: „Aber wir haben doch schon hundertmal gesagt, es soll nicht über die Straße laufen!“ Aber, „gesagt“ heißt, dass der präfrontale Cortex, der in diesem Alter total unterentwickelt ist, das aufgenommen hat, dass aber das impulsgesteuerte Säugetiergehirn immer noch total Oberhand hat. Und wenn der Impuls kommt, kann der Verstand zehnmal sagen „Ich will aber nicht!“. Ich erinnere nur alle Erwachsenen daran, die nach einem langen, anstrengenden Tag in eine Tafel Schokolade beißen, obwohl sie genau wissen, dass sie lieber Salat essen sollten. Das ist auch eine Frage der Impulskontrolle. Wir haben das also alle.

In unserer Situation muss ich das Kind stoppen. „Stopp!“ rufen. Ich muss das Kind festhalten und sagen: „Schatz, ich habe so eine Angst, wenn du über die Straße läufst. Guck dir das Auto an, es hat gerade noch gebremst!“ Ich muss erklären, was passiert und dann muss ich einfach aufpassen, dass ein Kind, das noch keine Impulskontrolle hat, immer nur so weit von mir weg ist, dass ich maximal einen Schritt gehen muss, um es festzuhalten an der großen Straße. Und ich muss dem Kind immer wieder erklären: „An der Straße bleiben wir stehen.“ Und gleichzeitig die Geduld aufbringen. Mit sechs Jahren sind wir dann ungefähr so weit.

R.-S.: Das heißt, den Schulweg kann ich einüben und das kann gut klappen, aber der Weg zum Kindergarten darf nicht so kompliziert sein und hier brauchen die Kinder noch unsere Begleitung.

S.: Oder einen Buggy oder eine Hand.

R.-S.: Haben Sie eine Idee, was Eltern machen können, die sich überfordert fühlen? Wie und wo bekommen sie Unterstützung, was können sie tun?

Das Erste, was wir immer machen müssen, ist zu gucken: Wo kommt unser Stress her?

S.: Das Erste, was wir immer machen müssen, ist zu gucken: Wo kommt unser Stress her? Das Problem ist ja, dass wir alle dauergestresst sind. Das geht ja morgens schon los: Wir müssen aufstehen, bevor wir ausgeschlafen sind. Alle müssen schnell in die Kita und zur Arbeit. Auf der Arbeit ist es vielleicht schwierig oder herausfordernd. Dann müssen wir erst die Kinder abholen und dann mit müden, hungrigen Kindern einkaufen. Kochen, aufräumen, Hausaufgaben betreuen und quenglige Kinder zum Klavier, zum Sport oder was auch immer bringen. Eben unsere ganze Haushaltsorganisation machen. Irgendwann sind wir total fertig und wollen einfach nur, dass die Kinder schlafen. Und dann schlafen sie einfach nicht und dann geht alles von vorne los. Das Erste, was wir gucken müssen ist: Wo kommt unser Dauerstress her und wie können wir das entschlacken? Ansonsten gibt es wunderbare Beratungsstellen und Unterstützung für Eltern, die sagen: „Ich komme da nicht mehr raus!“ Und ich finde, das ist eine ganz wichtige Erkenntnis: Das Gefühl, ich komme aus dem Stress nicht mehr raus, heißt nicht, dass ich nicht rauskomme, es heißt einfach nur, dass mein Gehirn schon so überlastet ist, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, was man machen könnte. Und dann ist eine Beratung oder jemand der mit mir zusammen auf meine Situation draufschaut absolut Gold wert.

R.-S.: Natürlich habe ich diese Antwort erhofft, da ich ja selbst Erziehungsberater bin. Die Idee, sich Hilfe zu holen, als etwas Positives zu sehen, statt es als Schwäche und Unfähigkeit auszulegen ist gut. Im Gegenteil, es ist eine Stärke, als Eltern ein Stoppsignal zu setzen und sich Unterstützung zu holen, bevor es den Kindern schlecht geht.

Wie kann ich denn erkennen, dass ich schimpfe? Persönlich finde ich es sehr gruselig, wenn sich Menschen „freundlich böse“ verhalten, so wie die Figur der Professorin Umbridge bei Harry Potter, die ganz freundlich ist mit ihren Katzentassen und schicken Bildern, aber eigentlich ganz, ganz böse ist. Wie kann ich denn erkennen, dass ich schimpfe, obwohl mein Ton eher gelassen ist und ich dem Kind gegenüber sage: „Was willst du denn? Ich bin doch ganz ruhig und habe doch gar nicht geschimpft.“ 

Immer dann, wenn das Kind darunter leidet, gestresst wird, sich nicht wohl fühlt, dann habe ich geschimpft.

S.: Der Trick ist, dass Kommunikation davon abhängt, wie es beim Empfänger ankommt, nicht was ich raussende. Das heißt, immer dann, wenn das Kind darunter leidet, gestresst wird, sich nicht wohl fühlt, dann habe ich geschimpft. Und das kann ich auch ganz ruhig machen. Ich kann ganz ruhig sagen: „Pass mal auf mein Freund, noch einmal so ein Theater und wir gehen nie wieder in den Zoo und das sage ich dir in aller Freundlichkeit!“ Das ist brutal geschimpft, weil das Kind massiv unter Druck gesetzt wird.

R.-S.: Das heißt, ich merke es wahrscheinlich an der Reaktion des Kindes, dass ich geschimpft habe?

Wir haben diesen Impuls von Dominanz, von Übermächtigung und die Kinder spiegeln uns das auch zurück

S.: Ja, wenn man ein bisschen selbstkritisch ist, merkt man es auch ein bisschen an sich selber. An der eigenen Intention, das Kind unter Druck zu setzen und unter Druck etwas durchzusetzen. Ich sage immer, was nur mit Druck funktioniert, funktioniert am Ende eigentlich gar nicht. Und wir merken es eigentlich. Wir haben diesen Impuls von Dominanz, von Übermächtigung und die Kinder spiegeln uns das auch zurück.

R.-S.: Ich kann mich an ein Beispiel erinnern von einem Vater, der es geschafft hat, dass sein Sohn nicht sitzen geblieben ist, obwohl er nur Fünfen und Sechsen hatte. Und der Sohn hat dann in der Beratung gesagt: „Papa, das hat zwar geklappt, aber wenn du das noch einmal machst, gehe ich ins Heim!“ Das heißt, am Erfolg, dass die Kinder dann gehorchen, kann ich das gar nicht messen, sondern wirklich die Idee, dass ich mit Druck natürlich was erreiche, aber nicht das, was ich eigentlich will, nämlich ein selbstbewusstes Kind, das mit offenen Augen durch die Welt geht.

Kinder, die funktionieren, sind keine gesunden, glücklichen Kinder.

S.: Genau. Dass Kinder funktionieren. Aber Kinder, die funktionieren, sind keine gesunden, glücklichen Kinder. Natürlich müssen Kinder lernen, in bestimmten Situationen auch zu funktionieren aber oft haben wir zu stark den Fokus auf: „Ich will, dass das jetzt funktioniert, egal wie.“

R.-S.: Auch ein Phänomen, was ich erlebe, ist das man in eine Dauerschleife gerät, und anfängt zu schimpfen und dann fallen einem noch 4, 5, 6, 7 Themen ein, bei denen man auch unzufrieden war. Haben Sie eine Idee, wie man sich auf eine Sache konzentrieren kann, die auch wirklich geändert werden muss und wie ich das am besten mache?

Ich sage meinen Eltern oft: „Wenn ihr schimpft, habt ihr zwei Stunden vorher den Fehler gemacht.

S.: Ja. Ich sage meinen Eltern oft: „Wenn ihr schimpft, habt ihr zwei Stunden vorher den Fehler gemacht.“ Das heißt, wenn ich schon dabei bin, quasi aus dem Nichts auszurasten und „das und das und das…“, dann ist mein Gehirn bereits im Alarmmodus. Da ist eigentlich nicht mehr viel zu machen. Da kann ich nur noch raus, spazieren gehen, einen Schluck Wasser trinken, im Bad einmal richtig brüllen – irgendwas, aber da bin ich eigentlich schon drüber. Ich muss lernen, zu merken: „Jetzt steigt mein Stresspegel. Wenn jetzt noch was schiefgeht, raste ich aus. Ich muss lernen, Dinge frühzeitig anzusprechen und nicht erst, wenn die Kinder fünfmal über meine Grenzen gegangen sind. Solange ich die Dinge noch ruhig ansprechen kann. Und ich muss lernen, mir Hilfe zu holen. Wir denken immer: „Bis zehn zählen und durchatmen“, aber das kann ich im roten Bereich gar nicht mehr. Ich brauche jemanden, den ich anrufen kann: beste Freundin, bester Freund, Mama, Papa oder wen auch immer. In der Situation, in der ich das Gefühl habe: „Wenn das Kind noch einen Satz sagt, dann schmeiße ich was durch die Gegend!“, brauche ich jemanden, der sagt: „Okay, komm jetzt mal runter. Ist das Kind sicher? Wir gehen mal zusammen in die Küche. Trink mal ein Glas Wasser. Erzähl mir, was passiert ist.“ Also ein menschlicher Kontakt, der uns hilft. Denn de facto ist das Problem ja, dass wir mit den Kindern so viel alleine sind. Wenn wir immer zu zwölft wären mit unseren Zwei-Dreijährigen, dann hätten wir überhaupt kein Problem mehr. Es gäbe immer jemanden, der sagt: „Ach komm, ich übernehme das mal!“

R.-S.: Dieser afrikanische Spruch „Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder zu erziehen“, da ist schon was dran?

Der normale Betreuungsschlüssel ist drei zu eins

S.: Definitiv. Wir sind eine kooperativ aufziehende Art. Der normale Betreuungsschlüssel ist drei zu eins, das heißt drei Erwachsene betreuen ein Kind.

R.-S.: Es wäre schön, wenn dieses Wissen noch mehr verbreitet würde. Vor allem, das Kitas besser ausgestattet würden. Aber das ist, glaube ich, ein eigenes Thema. Zum Schluss hätte ich noch mal eine Bitte: In ihrem Buch beschreiben Sie ein Nichtschimpfen Programm, bei dem man sich auch selbst überprüfen und daraus lernen kann. Könnten Sie bitte kurz beschreiben, wie das geht und für wen das gedacht ist?

Wir schimpfen 21 Tage gar nicht. Und jedes Mal, wenn wir doch schimpfen, fangen wir neu an

S.: Es ist gedacht für alle, die sagen, ich will das mal ausprobieren und sehen, wie ich mich sehe. Wie kann ich mir mit Hilfe von außen tatsächlich bewusster werden und weniger oder gar nicht mehr schimpfen. Und die Idee ist, zu sagen: Wir schimpfen 21 Tage gar nicht. Und jedes Mal, wenn wir doch schimpfen, fangen wir neu an, was einen super Lerneffekt hat. Und es gibt eine Möglichkeit auf der Website von Artgerecht.de, sich für einen E-Mail-Newsletter einzutragen, wo wir dann die Menschen auch dabei begleiten, und jeden Tag einen Impuls senden und sagen: „Guck mal heute, achte mal da drauf. Heute kümmere dich mal um dich. Heute kannst du schauen, ob du einen Moment findest, wo du für dich durchatmen kannst.“  Und wir kriegen sehr gutes Feedback, weil die Leute sich einfach nicht so alleine fühlen mit der Idee und jeden Tag so ein bisschen Unterstützung kriegen. Wie eine gute Freundin, die sagt: „Hey, du wolltest doch nicht schimpfen! Komm, heute gucken wir mal, ob das und das dir hilft.“

R.-S.: Das klingt gut, vor allen Dingen dieses: „Geh wieder zurück auf Los“, motiviert vielleicht dann auch zu sagen: „Da bleibe ich aber wirklich dran, sonst muss ich das ja noch mal durchziehen!“.

Desto mehr man übt, desto besser wird es

S.: Genau und auch: „Ich habe es nicht geschafft“, macht nichts. Jetzt durchatmen und  noch mal von vorn. Weil, eigentlich, je öfter man von vorne anfängt, desto mehr man übt, desto besser wird es.

Vielen Dank für das Interview!

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